Rettungseinsatz im Dominastudio
Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dachte Lilith genervt, während sie sich bemühte nach außen eine gefasste Miene zu zeigen. Nils war einer ihrer Stammgäste. Und jetzt hoben die Rettungssanitäter die Trage an, um ihn zu ihrem Wagen zu bringen. Unterdessen sprach der Notarzt noch einige Worte in seine Handfunke: “ausgedehnter Hinterwandinfarkt, 50jähriger Patient, männlich, in gutem AZ, sediert und intubiert. Keine Spontanatmung …”. Es folgte noch Einiges, das sie nicht mehr mitkriegte, dann fuhr das Auto mit Blaulicht Richtung Krankenhaus.
Lilith hieß mit bürgerlichem Namen nicht so, aber hier im Studio hieß sie für alle “Lady Lilith” oder einfach “Herrin”. Vor etlichen Jahren hatte sie sich das Dominastudio aufgebaut und führte erfolgreich ein ganzes Team von Damen, die verschiedenste Dienstleistungen aus dem Bereich des Sadomasochismus anboten. Nils kam seit Jahren zuverlässig jeden zweiten Freitag um die Mittagszeit. Sie wusste nicht sehr viel von ihm, und das was sie wusste, behielt sie für sich. Schließlich gehörte Diskretion zu ihrem Geschäft.
Zwischen ihr und ihrem Stammgast war mit der Zeit eine gewisse Vertrautheit entstanden. Er arbeitete als Leiter eines gutgehenden Ingenieurbüros, konnte sich die regelmäßigen Studiobesuche also wohl leisten. Er war kinderlos verheiratet und vereinte alle möglichen Risikofaktoren für einen Herzinfarkt, rauchte, war sportlich wie ein Mops und brachte etliche Pfunde zu viel auf die Waage. Sie mochte ihn, war er doch stets freundlich, respektvoll, dabei durchaus auch mal witzig und unterhaltsam. Jetzt hatte ihn der Herzinfarkt also erwischt. Ausgerechnet hier.
Die Session war gut gewesen. Sie hatte Nils gefragt, ob er einverstanden wäre, wenn eine Jungdomina im letzten Teil ihrer Ausbildung dabei wäre. Er war und so war diese mit dabei, was sich im Nachhinein als Glücksfall erwies. Nils hatte die lustvollen Quälereien der beiden Frauen hinter sich und lächelte selig. Die Fesseln wurden gerade entfernt, als er aufschrie, bleich wurde, kalten, grobperligen Schweiß auf der Stirn bekam und nicht mehr auf Ansprache reagierte.
Die “Babydomina”, wie Lilith sie bei sich nannte, reagierte erstaunlich umsichtig, ruhig aber schnell. Sie leistete erste Hilfe, während Lilith den Rettungsdienst herbei telefonierte. Sie dachte sogar daran, die anderen Damen zu instruieren, mit ihren Gästen die jeweiligen Spielzimmer nicht zu verlassen. So bekam außer dem Rettungsdienst niemand etwas mit. Nur einige Gäste kamen in den Genuss einer kostenlos verlängerten Session. Darüber beklagte sich keiner. Sie beschloss, die junge Kollegin für ihr Verhalten zu loben und nie wieder bei sich “Babydomina” zu nennen.
Sie fühlte sich in ihrer Meinung bestätigt, dass Domina eigentlich ein ordentlicher Ausbildungsberuf sein sollte. Der Rettungsdienst und der Notarzt, der nur eine Minute später eintraf, benahmen sich erfreulich professionell und ersparten ihr irgendwelche witzig gemeinten Kommentare. So war alles in ihrem Sinne so gut verlaufen wie eben möglich. Sie hoffte nur, dass Nils’ Ehefrau die genauen Umstände der Krankenhausaufnahme nicht erfahren möge, glaubte aber nicht wirklich daran.
Transfer
Es war wieder “sein” Freitag, der Besuchstag bei Herrin Lilith. Heute hatte er die Session mit zwei Damen. Zur Ausbildung der Jüngeren, hatte Lady Lilith ihm gesagt. Wie hätte er dagegen sein können? Zudem agierte die Jungdomina bereits derart souverän, dass er ohne weiteres auch einen Termin mit ihr allein gemacht hätte. Es war ein Genuss gewesen. Er entspannte sich wie immer, während er aus den Fesseln (leider) wieder befreit wurde. Dann kam es ganz plötzlich. Die Faust eines Riesen aus Stahl schloss sich um seinen Brustkorb und drückte erbarmungslos zu. Ihm blieb die Luft weg. Alles nur noch Panik und Schmerz. Er bekam noch mit, wie die beiden Damen an ihm herumhantierten, dann war alles weg.
Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Die Umgebung verwirrte ihn. Zum Glück schien ihn niemand zu beachten. Er saß in einer Schulklasse. Wie bitte? – Genauer gesagt: Seiner Schulklasse und zwar im Jahr des Abiturs. Neben ihm auf der Linken sein Kumpel Udo, rechts Jörg, schräg gegenüber Peer, das bevorzugte Mobbingopfer der Bande. Die Tische in U-Form aufgestellt, vorn ein Lehrerpult, auf dem seine Deutschlehrerin saß, wie fast immer, wenn sie unterrichtete. Ihm gegenüber, auf dem anderen Schenkel des U saß Selma und beantwortete irgendeine Frage der Lehrerin. Er selber war zum Glück nicht im Fokus der Aufmerksamkeit, was ihm die Gelegenheit gab sich notdürftig zu orientieren. Er blickte unauffällig auf seine Uhr. Ah – gleich musste Schluss für heute sein, stellte er erleichtert fest. Die Klingel erlöste ihn. Er griff nach seiner Tasche und beeilte sich nach Hause zu kommen um nachzudenken.
Er schloss die Tür auf. Niemand zu Hause, das war kein Wunder. Seine Mutter hatte, seit er 17 geworden war, eine Beschäftigung bonus veren siteler aufgenommen, weil ihr Sohn schon lange nicht mehr ständig der Aufsicht bedurfte. Sein Vater war ohnehin noch im Büro. Er ging in sein Zimmer, legte sich auf das Bett und vergegenwärtigte sich seine jetzige Situation.
Die Schule. Er wusste, dass er das Abitur demnächst noch einmal bestehen musste. Wie würde das gehen? Hatte er zu viel vergessen? Er ging die wichtigsten Fächer durch. Deutsch, das Hauptfach schlechthin. Nun, seine Frau hatte Literaturwissenschaft studiert, und er hatte sie während des Studiums eng begleitet. Für eine Interpretation im Abituraufsatz würde das allemal reichen. Besonders, wenn es das gleiche Thema sein würde, an das er sich noch erinnerte. Diesmal würde er es besser machen. Englisch musste er beruflich täglich sprechen und schreiben, kein Problem. Er hatte ein Ingenieursstudium abgeschlossen und sich nebenbei hobbymäßig mit Mathematik beschäftigt. Mathe und Physik, ausgesprochene Angstfächer für die meisten, für ihn Selbstläufer. Seine Stimmung besserte sich angesichts dieser Aussichten. Ohnehin: Als 50jähriger im Körper eines 18jährigen hatte er Lebenserfahrung und Selbstdisziplin, die ihm entscheidenden Vorteil verschafften.
Seine Gedanken schweiften zu seinen Mitschülern und Mitschülerinnen. Bei dem Gedanken an Peer überkam ihn ein schlechtes Gewissen. Der linkische, schlaksige, immer etwas naive Peer war die Zielscheibe der Späße und Quälereien der anderen. Die Späße kamen Nils nun auch gar nicht mehr spaßig vor. Es waren schlicht und einfach Gemeinheiten, die sie ihm angetan hatten. Das musste ein Ende haben, jetzt, wo sie doch fast alle älter als 18 Jahre waren. Er beschloss, seinen Kumpels ernsthaft ins Gewissen zu reden. Bei diesen Gedanken machte sich ebenfalls seine Reife bemerkbar, so viel war ihm klar.
Von den Mädchen interessierte ihn nur Selma, die Abweisende, die Geheimnisvolle. Außerhalb des Unterrichts sprach sie mit niemandem. Als er einmal besonders guter Laune war, hatte er versucht, ihr einige Nettigkeiten zu sagen. Ihre Antwort bestand aus einem Blick, der selbst ein hungriges Wolfsrudel dazu gebracht hätte den Rückzug anzutreten. Sie galt als arrogantes Miststück. Obwohl das keiner wirklich so genau sagen konnte. Es war nur die Tatsache, dass sie mit niemandem sprach und einen – wenn überhaupt – von oben herab ansah.
Dabei waren ihre Eltern ausgesprochen offene und herzliche Menschen. Nils hatte sie mal bei einem Schulfest kennen gelernt. Ihr Vater war ein baumlanger Norddeutscher, der viele Jahre im diplomatischen Dienst gearbeitet hatte. Die Eltern waren deshalb mit Selma durch die halbe Welt gezogen. Selma beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen fließend – nun, wenn sie mit jemandem sprach. Ihre Mutter war eine zierliche Vietnamesin, die als Kinderärztin in einem der Krankenhäuser der Stadt tätig war.
Selma selbst war eine aparte Schönheit, die rein äußerlich das Beste beider Seiten in sich vereinte. Hochgewachsen, schlank aber mit weiblichen Formen, lange, glatte, tiefschwarze Haare, die ihr bis über den herrlich runden Po reichten. Dazu leicht schräggestellte Augen, die ihrem Gesicht eine katzenhafte Anmutung verliehen. Und wie diese Tiere bewegte sie sich geschmeidig und elegant, dass ihr Gang einem Tanz glich. Neben ihr erschienen alle anderen Mädchen wie unbeholfene Trampel. Wäre sie doch bloß nicht so abweisend.
Schule
Nils ging hinunter ins Wohnzimmer, wo wie üblich die Morgenzeitung lag. Ein Blick auf das Datum, danach einer in seinen Stundenplan, so dass er wusste, was am nächsten Tag auf ihn zukommen würde. Eine Doppelstunde Mathe bei Grassmann gleich zu Beginn. Grassmann war eigentlich ein freundlicher Mann, klein, rund, schütteres Haar. Er hatte bloß die für einen Lehrer ungute Angewohnheit, im Unterricht nur mit dem besten Drittel der Klasse zu arbeiten. In der Zielgeraden auf das Abitur ging es natürlich um Analysis, für einen Ingenieur täglich Brot.
Die anderen Fächer des Tages waren Deutsch, Englisch und Musik. Das war ok. Den Rest des Nachmittags verbrachte Nils damit, seine Schulunterlagen zu sichten um sich auf den Stand zu bringen. Plötzlich musste er grinsen: So fleißig und gewissenhaft war er während seiner Schulzeit nie gewesen. Er machte noch das Abendessen, dann kamen seine Eltern von der Arbeit nach Hause. Der Rest des Tages verlief ereignislos.
In der ersten Doppelstunde legte Grassmann gleich voll los. Er schwadronierte ein wenig herum, dass an der Schule ja eigentlich bloss Rechnen betrieben werde, Mathematik aber nicht Rechnen sei. Ah – das lief jetzt also darauf hinaus, dass er in dieser Stunde ein Stück “richtige” Mathematik geben würde. Auch das eine Angewohnheit des Mathelehrers. Er würde einen Beweis an der Tafel vorführen. Nicht erforderlich für die Abiturprüfung. Er wusste keine Beweise auswendig und sah sie sich vor dem Unterricht auch nicht an. Stattdessen entwickelte yatırımsız bonus er den Gedankengang an der Tafel, wobei er auch mal stecken blieb, aber immer genialerweise irgendwie auf den richtigen Weg kam. Das verwirrte die meisten in der Klasse, so dass bei diesen Gelegenheiten noch weniger als das übliche Drittel mitkam. Der weit überwiegende Teil döste weg.
Nils kannte den Beweis. Nicht nur aus seinem Studium, sondern zufällig hatte er seine Mathe-Unterlagen wenige Tage vor dem Besuch bei Lady Lilith aufgeräumt und dabei einen Blick auf genau diesen Beweis geworfen. Vorne an der Tafel kam es, wie es kommen musste: Grassmann verhedderte sich in der Beweisführung und suchte umständlich nach dem richtigen Weg, was ihm dadurch erschwert wurde, dass er direkt vor der Tafel stehend nicht das Ganze überblicken konnte.
Nils kleidete seinen Hinweis in eine Frage, die er ohne sich zu melden einfach in den Raum warf. Grassmann blickte sich erstaunt um, ließ nur ein gedehntes “Jaaaah …” hören und nahm den Faden an der richtigen Stelle auf. Das interessantere Signal kam von dem Platz gegenüber. Selma sah ihn plötzlich an, lächelte, nickte und hielt einen Daumen nach oben. Das war schon sensationell, aber noch nicht alles.
Als es zur Pause klingelte und Nils nach draußen ging, sprach sie ihn im Vorbeigehen an: “Nicht schlecht. Dem Lehrer auf die Sprünge geholfen und das auch noch so, dass es niemand gemerkt hat.” Nils fiel die Kinnlade runter, so viel hatte die Unnahbare das ganze letzte Schuljahr nicht mit ihm gesprochen. “Nun ja, sooo geschickt kann es nicht gewesen sein, mindestens du hast es ja wohl mitgekriegt.” – “Keine Sorge, ich kann die Klappe halten, das weißt du ja.” Damit verschwand sie.
Nils ging zur Raucherecke, wo Udo und Jörg sich gerade eine Kippe in den Mund schoben. Er nahm sich auch eine und suchte nach einem Weg, das Problem mit dem Mobbing an Peer zur Sprache zu bringen. Sein Geschick schien ihn dabei im Stich zu lassen. Kaum hatte er die ersten Worte gefunden, entspann sich ein heftiger Streit in beträchtlicher Lautstärke, so dass schließlich die halbe Oberstufe mitkriegte worum es ging. Ein Wort gab das andere, dass verbal die Fetzen flogen. Am Ende äußerte Nils: “Ok, ich hab mich auch wie ein Arschloch benommen. Das heißt jetzt aber nicht, dass wir so weitermachen müssen. Eine Entschuldigung bei Peer wäre jetzt wohl das Mindeste.” Einige Meter weiter stand Selma, blickte nachdenklich auf das Grüppchen und dachte sich ihren Teil.
Nach diesem Zwischenfall verliefen einige Tage ereignislos bis zu einer denkwürdigen Englischstunde, die alles verändern sollte. Der Lehrer hatte sich seit geraumer Zeit auf Selma eingeschossen, mit vermeintlich witzigen, in Wahrheit aber verletzenden Bemerkungen, die er immer mal wieder vom Stapel ließ. Diesmal war es bei der Shakespeare-Lektüre ein deplatzierter Vergleich zwischen Selma und Lady Macbeth. Spontan ging Nils dazwischen: “Das ist jetzt nicht witzig. Und zur Rolle eines Lehrers passt das schon gar nicht.”
Urplötzlich war es in der Klasse totenstill. Einige endlose Sekunden des Schweigens danach kam vom Lehrerpult: “Nils, kommen sie nach der Stunde mal zu mir.” Danach ging der Unterricht weiter, als wäre nichts geschehen. Als es klingelte scheuchte der Pauker die Klasse aus dem Raum und schloss die Tür. Nils hatte sich vorgenommen, auf gar keinen Fall zu Kreuze zu kriechen und sich auf ein unangenehmes Gespräch gefasst gemacht.
Überrascht war er, statt der erwarteten Standpauke ein Lob zu bekommen: “Du hattest Recht, und ich muss dir für dein Eingreifen danken. Es war mutig von dir, dich vor Selma zu stellen. Ich werde mich bei ihr entschuldigen. Das war’s was ich dir sagen wollte.” – “Ich finde, dass es eine Stärke von ihnen ist, einen Fehler einzugestehen. Damit hätte ich nicht unbedingt gerechnet. Respekt!” Kurz danach war das Gespräch beendet, und Nils verließ den Klassenraum.
Beichte
Im Flur wartete Selma auf ihn, neben dem Fenster an die Wand gelehnt. Sie sagte nur: “Komm!” und ging ohne darauf zu achten, ob Nils ihr wirklich folgte.Sie ging zügig in die Cafeteria, nahm zweimal heiße Schokolade und setzte sich damit an einen kleinen Tisch in einer Ecke, von dem aus sie alles überblicken konnte. “Los, setz’ dich”, kommandierte sie Nils und stellte den zweiten Kakao vor ihn hin. “Woher wusstest du, dass ich Kakao nehmen würde?”, fragte er. “Ich rede zwar nicht mit euch, aber ich beobachte alles. Und seit einigen Tagen beobachte ich an dir etwas, worüber ich mit dir reden will.” In diesem Moment traten Jörg und Udo durch die Tür. Einen Moment lang blieben sie mit offenen Mündern stehen, als sie Selma und Nils zusammen sitzen sahen und wollten sich dem Tisch nähern. Doch Selma verscheuchte die Beiden mit einer Geste, die keinen Widerspruch zuließ.
“Also”, fuhr sie fort, “du scheinst über Nacht erwachsen geworden zu sein. Was ist mir dir passiert? Und um es gleich zu sagen: Die Veränderung kayıt bonusu gefällt mir sogar. Das will was heißen, denn vorher hat mir an eurer Clique gar nichts gefallen.” Nils blickte verlegen. “Danke für die Blumen. Aber das ist eine Geschichte – ähm – die glaubst du mir sowieso nicht.” Selma grinste unverschämt. Das war das zweite Mal, dass er an ihr eine andere Miene sah als das übliche Pokerface. “Damit hast du schon verloren. Die Ausrede macht mich erst richtig neugierig. Rede oder du hast keine Ruhe mehr.”
Nils holte ein paar Mal tief Luft und stotterte dann verlegen: “Bitte sag’ es keinem weiter und versprich mir, dass du nach dieser Geschichte nicht versuchen wirst, mich in die Klapsmühle zu stecken.” Selma nickte ihm aufmunternd zu und so begann Nils erst stockend, dann immer fließender die ganze Geschichte zu erzählen. “Also, eigentlich bin ich fünfzig Jahre alt …” Selma blickte ihn überrascht an, allerdings ohne allzu ungläubig zu erscheinen. “So habe ich mich doch nicht so sehr gebessert wie du denkst”, endete er schließlich, “immerhin habe ich meine Ehefrau jahrelang betrogen, indem ich regelmäßig ein Dominastudio besucht habe.”
Selma nickte gedankenverloren: “Die Geschichte klingt unglaublich, aber für mich erklärt sie, was ich die letzten Tage mitbekommen habe.” Eine Weile schwiegen sie miteinander, dann fasste Nils sich ein Herz: “Jetzt bist du aber dran.” Selma sah ihn nachdenklich an. “Ja, du hast wohl recht, nach deiner Beichte hast du es wohl verdient, meine zu hören. Du fragst dich sicher so wie alle anderen auch, warum ich derart abweisend bin.” – “Ja”, bestätigte Nils, “wovor musst du dich so schützen? Wir wollen dir doch alle nichts Böses. Zumindest nicht mehr, als im Schulalltag immer geschieht. So wie Peer würde es dir wohl nicht gehen.”
Grimmig lachend schüttelte Selma den Kopf. “Es geht gar nicht darum, mich vor anderen zu schützen. Ich muss andere vor mir schützen. Kurz und gut: Ich bin eine totale Sadistin. Was ihr mit Peer gemacht habt, ist im Vergleich zu dem was ich mit euch machen würde, vollkommen harmlos.” Sie erzählte nach und nach, was sie mit den Hausangestellten ihrer Familie angestellt hatte, als ihr Vater in der Botschaft in Quito war.
Keine hatte es länger als eine Woche bei der Familie ausgehalten. Dabei waren diese ihr gar nicht unsympathisch gewesen. Es war die pure Lust am Quälen, die sie einfach nicht zurückhalten konnte. Ihre Eltern und sie hatten es mit Psychotherapie probiert. Dahin ging sie immer noch regelmäßig. Es gab Fortschritte, wenn sie auch klein waren. Langsam konnte sie ihre sadistischen Impulse besser kontrollieren. Aber vorsichtshalber vermied sie engere Kontakte zu anderen Menschen, wo es nur ging. Nils fand diese selbstauferlegte Einsamkeit bedrückend und sagte das Selma auch.
“Und wie machst du es, wo das nicht geht? In der Familie zum Beispiel?”, wollte er dann wissen. “Das funktioniert inzwischen ganz gut mit der ‘Stopp-Regel’. Wenn jemand laut ‘Stopp’ sagt, ist das für mich das Signal, sofort aufzuhören”, erklärte Selma, “und das triggert mich recht zuverlässig.”. Nils fühlte sich an etwas erinnert. “Das ist ja wie bei einer Domina. Soll es heftiger zur Sache gehen, wird vorher so ein Safeword verabredet.” – “Das scheint dann wohl ähnlich zu sein.”
Nils fasste sich ein Herz und sprach einen naheliegenden Gedanken aus: “Unsere Geschichten passen ja richtig zusammen. Wir sind so etwas wie komplementär zueinander. Wenn das mit dem ‘Stopp’ funktioniert, steht doch einem näheren Kennenlernen nichts mehr im Wege.” – “Das ist mir natürlich auch eingefallen, gleich als du von den Besuchen im Domina-Studio berichtet hattest. Aber ich muss noch mal gründlicher darüber nachdenken. Lass mir doch einfach etwas Zeit.” Nils versprach es. Die heiße Schokolade war längst kalt und hatte eine schrumpelige Haut gebildet, als sie sich trennten. Nils fühlte sich so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr.
Besuch bei Selma
In der Oberstufe war es am kommenden Morgen längst rum, dass die super distanzierte, eiskalte Schönheit und Nils den ganzen Nachmittag in der Cafeteria zusammengesessen hatten. Jörg und Udo bestürmten ihn mit Fragen, was denn gewesen sei, aber Nils antwortete nur mit einem mürrischen “Das geht euch gar nichts an”, was die Spekulationen erst recht ins Kraut schießen ließ. Selma gab sich ihm gegenüber als ob nichts passiert sei.
Einige Tage später warf sie ihm im Vorbeigehen ihr “Komm!” entgegen aber schritt diesmal nicht zur Cafeteria, sondern verließ das Schulgelände in Richtung Wäldchen, wo sie an einer nicht einsehbaren Stelle stehenblieb. Sie drehte sich zu ihm um und begann unvermittelt: “Ich hab es mir überlegt. Wir können das mit dem Safeword machen, aber ich stelle einige Bedingungen.”
Nils nickte nur und wartete ab. “Du kannst das ‘Stopp’ sagen, wenn es dir zu viel wird. Aber wenn es zu früh ist, das heißt, wenn ich nicht zufrieden bin, beende ich nicht nur die Quälerei, sondern dann sind wir ganz geschiedene Leute. ok?” Nils nickte abermals. “Außerdem solltest du wissen, dass ich dich nicht bloß körperlich quälen werde, sondern vor allem psychisch. Du wirst dich klein und minderwertig fühlen, deinen Ekel überwinden müssen, peinlich sein und so weiter. ok?”